AUSSICHTEN
EINSICHTEN
SAAR INTERVIEW MIT MANON NITSCHE
Meisterinnenschule / die Grafische 2023
Text und Fotos Manon Nitsche
Interview mit SAAR.
Wie lange lebst du schon in Österreich bzw. Wien?
Ich lebe seit ca. 30 Jahren in Wien, also schon länger als in Ungarn. Wenn ich zurückdenke, war Wien damals zwar auch schon sehr cool, aber jetzt sind die Menschen noch offener. Vielleicht auch, weil Wien noch mehr Multikulti geworden ist.
Warum bist du nach Wien gekommen?
Ich bin im Kommunismus aufgewachsen. Unsere Pflichtsprache war Russisch in der Schule. Ich hatte nie gekauftes Gewand, meine Mutter hat alles selbst genäht. Als ich zehn Jahre alt war, besuchten wir meine Tante und ihren österreichischen Mann in Wien. Es war eine andere Welt für mich. Damals war mein Eindruck, dass die Menschen alle sehr offen waren. Ich habe davor noch nie Schwarzbrot gegessen, in Ungarn gab es nämlich nur Weißbrot, und so unterschiedliche Autos gesehen. Die Stadt war so sauber und unglaublich schön im Vergleich zu Ungarn, dass es mir einfach wahnsinnig gut gefallen hat. Wir waren damals zwei Wochen auf Besuch und mussten dann wieder nach Ungarn. Danach durften wir wegen des Kommunismus nicht mehr als Familie ausreisen, erst nachdem die Grenzen geöffnet wurden.
Wie war das Leben in Ungarn unter dem Kommunismus?
Bei mir war es so, je älter ich geworden bin, desto mehr hat sich der Kommunismus langsam aufgelöst. Ich hatte eine gute Kindheit. Wir hatten immer genug zum Essen, weil wir alles selbst angebaut haben. Der Kommunismus hat sich zum Beispiel so geäußert, dass wir bei Festen immer zuerst die russische Hymne und dann die ungarische sangen, und dass wir russisch in der Schule lernen mussten. Meine Vorfahren, die ein Gestüt hatten und den Kommunismus noch so richtig erlebt haben, wurden von der Regierung enteignet. Der andere Teil von meiner Familie war gebildet und intellektuell, aber alle hochreligiös.
Beide Seiten hatten Einfluss auf mich. Als Kind war ich meistens bei meinen Großeltern, mein Großvater hat noch mit Pferden gearbeitet, aber wir hatten auch Schweine, Hühner und haben selbst Gemüse und Obst angebaut. Ich habe den Kommunismus weder als positiv noch negativ erlebt, es war damals einfach so. Es gab bestimmte Regeln. Wir haben in einer Kleinstadt gelebt, da gab es nur eine Schule, zu der auch meine zwei älteren Brüder gegangen sind. Wir mussten jeden Tag eine Stunde hin und eine Stunde zurückgehen. Am Weg wurde ich oft von Zigeunern ausgeraubt, weshalb ich immer versucht habe andere Routen zu nehmen, die dann aber noch länger gedauert haben. Es gab nur diese Grundschule, deshalb wurde ich dann mit 14 Jahren auf ein Internat geschickt. Dafür bin ich so dankbar, das war die beste Zeit meiner Jugend. Da habe ich dann schon gespürt, dass sich etwas verändert, ich wollte unbedingt Deutsch oder eine andere Sprache lernen. Damals war das noch nicht erlaubt, man konnte zwar Kurse machen, musste aber viel dafür zahlen. Als ich dann maturiert habe, wurden die Grenzen geöffnet, und die SchülerInnen durften auch Englisch oder Deutsch als ihre Fremdsprache wählen. Ein Teil des Kommunismus war, dass wir immer in den Sommerferien arbeiten mussten. Meine Mutter war Krankenschwester. Ich habe oft bei ihr im Spital mitgearbeitet, wir haben bei Operationen assistiert, bei Amputationen, bei Geburten und auch in der Pathologie. So kam der Wunsch, dass ich im Anschluss Medizin studieren wollte. Es kam dann alles anders. Als ich 17 war, ist mein Vater gestorben. Ich konnte kein Spital mehr betreten. Ich habe plötzlich gespürt, das ich nicht in Ungarn bleiben will. Ich wollte in einem Land leben, wo das Leben schöner ist, wo die Menschen nett sind. Ich wollte nur noch weg. Mit 19 bin ich dann, ohne ein Wort Deutsch zu
können, nach Wien in eine WG gezogen. Als Erstes habe ich einen Deutschkurs gemacht. Danach einen Computerkurs bei Siemens. Ich wurde schnell besser in der Sprache und nahm dann auch Englisch und Spanisch dazu. Zu der Zeit bin ich sehr viel gereist, um mich in den Sprachen zu verbessern. Um Geld zu verdienen, habe ich eine Sportausbildung in Wien gemacht. Ich durfte offiziell noch nicht arbeiten, habe aber in drei Studios parallel Aerobic unterrichtet. Mit dieser Ausbildung konnte man damals leicht einen Job in den Fitnesscentern finden. Zusätzlich bin ich dann als Model entdeckt worden, wodurch sich mein Leben zu dem Zeitpunkt komplett geändert hat. Mit 22 habe ich angefangen, auf der Werbeakademie Kommunikationsdesign zu studieren, weil ich gewusst habe, dass das Modeln nicht ewig anhalten wird. Außerdem habe ich damals begonnen zu malen und schon Bilder verkauft. Meinen ersten offiziellen Job hatte in einer Werbeagentur, nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte. Ich habe dann endlich eine Arbeitsbewilligung bekommen, damals durften ungarische Staatsbürger·innen nicht einfach so zu arbeiten beginnen, ich glaube, weil Ungarn noch nicht bei der EU war.
Was machst du jetzt beruflich?
Ich bin Künstlerin, Malerin. Ich hatte große Künstler um mich herum, von denen ich viel gelernt habe.
Wie stellst du dir dein Leben in der Zukunft vor?
Es soll hier Frieden bleiben, aber ich wünschte natürlich, dass überall Frieden wäre. Mich erschreckt einfach die Gier des Menschen. Wieso benötigen wir Kriege? Wir haben genug auf dieser Welt, genug Wasser, Essen usw., aber das ist Politik, Gier und Macht.
Das war jetzt allgemein gesprochen, mein persönliches Leben stelle ich mir zurückgezogen, naturverbunden und künstlerisch vor, in Ruhe. Ich möchte meine Sinne und mich nicht verlieren. Es ist alles sehr schnelllebig geworden. Ich möchte mein Essen noch schmecken können und selbst das Gemüse aus der Erde holen. Aber auch Reisen möchte ich weiterhin. Ich möchte ich selbst sein und meiner Umgebung ein gutes Gefühl mitgeben.
Lebt deine Familie in Wien?
Für mich sind meine Kinder meine Familie und die leben in Wien. Es ist schwierig zu beantworten, weil der Teil, den ich Familie nenne, hier lebt, mein Ursprung lebt in Ungarn.
Empfindest du dich als Teil der österreichischen Gesellschaft?
Ja, voll! Ich bin, glaube ich, schon eine Österreicherin, ich liebe diese Stadt und vergesse ungarisch manchmal bereits.
Wie war das am Anfang für dich, als du hergekommen bist?
Am Anfang war ich sehr schüchtern, hauptsächlich wegen der Sprachbarriere. Beim Einkaufen habe ich sehr leise gesprochen, ich wusste nicht genau, wie ich an der Fleischtheke bestellen soll und ich wollte ja nicht mein Wörterbuch herausholen. Englisch war einfacher für mich, Deutsch war wahnsinnig schwer zu lernen. Deshalb wollte ich unbedingt die Sprachkurse absolvieren, damit ich auch eine gewisse Selbstsicherheit bekomme.
Wie empfindest du die österreichische Gesellschaft?
Sehr gut, ich mag die Entwicklung von Wien, das ist bewundernswert. Ich rede nicht über die Politik, das ist überall dasselbe, Arschlöcher gibt es überall und wird es auch immer geben. Ich finde es super, wie die Leute hier sind, dass sie demonstrieren und auch ihre Meinung sagen. Ich halte die Entwicklung für enorm. Kulturtechnisch zum Beispiel. Wien ist aber auch sicher, sauber, es herrscht ein unglaublicher Wohlstand in vielen Bereichen.
Hast du die österreichische Staatsbürgerschaft?
Nein.
Ist es dein Ziel, die österreichische StaatsbürgerschaB zu bekommen?
Ehrlich gesagt habe ich im Moment das Geld, was man dafür zahlen muss, nicht übrig. Ich habe alle Dokumente wie Steuererklärungen und die Bestätigung, dass ich kreditwürdig bin. Die Liste an Dingen, die man benötigt, ist sehr lang und eine Prüfung, die wieder etwas kostet, muss man auch machen. Also eher in der Zukunft.
Möchtest du in hier bleiben?
Ja, definitiv, ich würde gern am Land leben, aber auch in der Stadt sein. Vor allem, um Kunst erleben zu können und wegen meiner Kinder und Freund·innen. Ich brauche beides.
Wenn du der Regierung etwas sagen könntest, was wäre das?
Schüttelt euren Kopf.
Wie meinst du das?
Die sind alle so falsch, es gibt viele Dinge, die einfach nicht fair sind. Aber was ich extrem schätze in Österreich, ist das Gesundheitssystem. Als Selbstständige ist es allerdings nicht einfach. Ich kann mich nicht arbeitslos melden, weil ich immer selbstständig bin. Ich könnte Mindestsicherung -beantragen, aber wenn ich nächste Woche ein Bild
verkaufe, darf ich keine -Rechnung schreiben. Da wäre es natürlich nicht schlecht, ein besseres -System einzuführen.
Bist du innerhalb Österreichs viel mit der ungarischen Kultur beschäftigt? Welchen Platz nimmt sie ein?
Nein, außer, wenn ich etwas koche. Ich bin in dem Sinn nicht mit ihr verbunden, ich habe auch meine Kinder nicht in die ungarische Schule geschickt. Sie sind beide Österreicher. Ungarn ist mein Ursprung, aber ich sehe das als meine Vergangenheit an, meine Heimat ist hier.
Also fühlt sich Wien wie deine Heimat an?
Ja, und die Sprache auch, ich habe das so adoptiert. Drüben bin ich aufgewachsen, aber ich bin wahnsinnig dankbar, dass ich hier bin.
Fühlst du dich hier willkommen?
Total, ich habe hier so gute FreundInnen gefunden.
Hast du kulturellen Rassismus erlebt?
Ein bisschen schon. Nicht direkt auf mich bezogen, aber wenn man gemeinsam am Tisch sitzt, viele wissen nämlich nicht, woher ich komme und denken nicht, dass ich Ausländerin bin, habe ich schon manchmal blöde Kommentare gehört. Sobald es aber ausgesprochen ist, dass ich nicht aus Österreich bin, kommt sofort » oh, ich habe das nicht so gemeint, bitte versteh mich nicht falsch «.
Was ist dein Lieblingsort in Wien?
Mein Zuhause, meine kleine Oase.
Vermisst du etwas aus Ungarn?
Ich vermisse meine Kindheitsfotos, die meine Mutter leider weggeschmissen hat oder meine alten Zeichnungen aus der Schule. Sonst vermisse ich gar nichts.
Gibt es Unterschiede zwischen der österreichischen und der ungarischen Kultur?
Es gibt schon unglaubliche Unterschiede. Sehr große politische, aber darauf möchte ich nicht eingehen. Menschliche gibt es auch, die Ungar·innen waren früher wahnsinnig warmherzig, mittlerweile nicht mehr so, bei den Österreicher·innen empfinde ich es -genau umgekehrt. Wien hat sich gut entwickelt. Es gibt noch einen interessanten Unterschied. Ich habe in der Galerie, mit Kund·innen gesprochen und sie haben mich gefragt, woran ich merke, dass potenzielle Käufer·innen hineinkommen. Hier ist es so, dass du das eben nicht merkst, die Person gibt nicht nach -außen zu erkennen, wie viel Geld sie hat. In Ungarn hingegen ziehen sich die vermögenden Leute das teuerste Gewand an und fahren die teuersten Autos, auch wenn sie es sich eigentlich nicht leisten können, Hauptsache Show. Ich mag es mehr, wenn Leute bescheiden sind.
Viele Österreicher·innen finden Österreich rückständig, wie findest du das?
Nicht mehr finde ich. Früher hat Österreich ungefähr dreimal so --lange gebraucht wie andere Länder, es ist immer noch ein bisschen so. Es wäre cool, wenn ein bisschen mehr Mut da wäre, revolutionäre Dinge zu tun. ÖsterreicherInnen mögen es gemütlich, deshalb wird Wien glaube ich auch niemals eine Megacity sein, aber vielleicht ist das auch besser so. Wien ist eine wunderschöne, gemütliche Stadt. In der Schulbildung könnte man ein bisschen Fortschritt -gebrauchen.
Wann wirst du dich hier wohlfühlen? Jetzt oder in der Zukunft?
Jetzt und in Zukunft!
MANON NITSCHE